Die Wege des Glühwürmchens
Aus dem Englischen von Klaudia Ruschkowski
Der Stand der Dinge
Kummer und Hunger und Schlaflosigkeit
Katerstimmungen und Migränen und Sonntage
eine Schachtel mit Geheimnissen unter dem Bett
die du lieber noch nicht enthüllen willst
der Geruch verfaulter Bananen im Hausflur
lautes Gekreisch von Ratten in den Straßen
oder ist es Beklemmung
Sommer und Winter
schlechte Nachrichten im Fernsehen
ein Wunsch nimmt Gestalt an
zwischen den Augenlidern.
Du merkst am Gestank
dass du es nicht großartig machst
aber du machst es
und das liegt meilenweit
vor jedermanns Prognosen.
….
Kollektive Vorstellung
Die Sache mit der Trauer
liebes Glühwürmchen
ist die, dass sie viele Einheiten zugleich umfasst
alle bedürftig nach Aufmerksamkeit und unbesonnen
jede einzelne verlangt ihre eigene Medizin.
Mittlerweile bin ich mir bewusst
dass der große Schatten dessen, was geschah
nicht verschwinden wird
er ist sehr präsent
und nimmt sich beim Essen manchmal den größeren Bissen
den schöneren Platz auf dem Sofa
die ungünstigste Sekunde
für seinen Schuss Rampenlicht.
Ich bin mir auch bewusst, dass andere ihn sehen können
nicht wie einen Schimmer im Augenwinkel
oder eine alte Kriegsnarbe
sondern ganz plastisch
und zunächst, nachdem sie ihn rasch zur Kenntnis genommen haben,
stoßen sie ihn ein paar Mal an, um zu sehen, ob er sich regt
ob er tollwütig ist
ob er nach einem Vogel mit gutem Gefieder klingt
oder sich wie eine Eidechse versteckt
dann werden sie seiner überdrüssig
und ohne zu fragen
tun sie so, als sei er nicht wirklich da.
Ich möchte nicht, dass ihr die Trauer beim Vor- und Nachnamen nennt
am Tisch Platz für sie macht
oder mir sagt, in welcher Gestalt sie erscheint
denn auch ich kann sie sehen
ich lebe mit ihr
ich bin verantwortlich für ihre Behandlung
ich allein muss mit ihren Ausrastern fertigwerden
alles was ich sage, ist
ab und zu wäre es schön, gefragt zu werden
ob wir alle in der Öffentlichkeit spazieren gehen wollen
ob einer etwas braucht, um uns auf Trab zu halten
ob dieser oder jener Stein ins Meer geworfen werden kann
in unserer Erinnerung.
ELIZABETH TORRES (Madame Neverstop)
Kolumbien, 1987. Poetin, Übersetzerin, Multimediakünstlerin.
Ihr Werk verbindet Dichtung, Visuals und Klanglandschaften, Sprache und Performance, wobei es Visionen und Konzepte in verschiedenen Kunstformen und Medien kombiniert.
Elizabeth ist die Autorin von über 20 Poetry-Bänden, erschienen in mehreren Sprachen. Ihr jüngstes Buch, Det usynlige sår (Die unsichtbare Wunde), vom spanischen Original ins Dänische übersetzt von Malene Boeck Thorborg, erschien 2019 in einer zweisprachigen Ausgabe bei Det Poetiske Bureaus Forlag, Kopenhagen. En las Fauces del Olvido (Im Rachen der Vergessenheit) kam 2017 bei La Impresora, Puerto Rico, heraus; die spanisch/englische Ausgabe wurde 2018 in Mexiko und Guatemala vorgestellt; im selben Jahr folgten Präsentationen in den nordischen Ländern.
Elizabeths Weg als Dichterin begann schon in jungen Jahren. Ihr Schreiben wurde getrieben durch die sozialen Konflikte ihres Heimatlandes Kolumbien. Ihr erstes Buch publizierte sie als Kind und wurde im Alter von acht Jahren vom kolumbianischen Buchverband mit einem Nationalpreis für Poesie ausgezeichnet. Nur kurz darauf ging Elizabeth als politischer Flüchtling in die Vereinigten Staaten. Sie studierte später an der Kean University Medien & Film und Bildende Kunst und hielt im Anschluss auch Vorträge, wobei sie ihre Geschichte als Inspiration für Studenten und junge Leute nutzte, zunächst in den USA und Kanada. Nach ihrem Umzug nach New York wandte sie sich von dort aus an Menschen aus der ganzen Welt.
Elizabeth lebt heute in Kopenhagen, leitet das Red Door Magazine & Gallery und den Podcast Red Transmissions.